Die unsichtbaren Bühnen des Alltags: Warum jeder ein Performer ist
„Für mich wäre das ja nichts!“ – Ein Satz, den ich oft höre, wenn ich von meinem Beruf als Moderator erzähle. Die Skepsis gegenüber der Bühne ist weit verbreitet: „Es macht dir Spaß, auf einer Bühne zu stehen?“ oder „Ich bin froh, dass es Menschen gibt, die das freiwillig machen. Dann muss ich das nicht machen.“
Die Reaktion auf meine Arbeit als Moderator ist oft von Unverständnis geprägt. Ein Gefühl, dem ich durchaus nachempfinden kann.
Die herausfordernde Bühne
Die Vorstellung, vor vielen Menschen zu sprechen, ist allgemein bekannt. Die Definition von “vielen Menschen” mag variieren, aber die Herausforderung bleibt gleich: sich auf eine Bühne zu begeben, auf der alle Augen plötzlich auf einem ruhen, Erwartungen entstehen und eine gewisse Fähigkeit oder Präsentationskompetenz verlangt wird.
Und wenn wir da mal ganz ehrlich sind ist es doch schon auch super: Solange da oben jemand anderes steht, stehst du selbst nicht da und blamierst dich. Perfekt.
Vermutlich erinnert sich jeder, der das hier liest an eine Situation in der Schule, in der Ausbildung oder im Beruf, in der er oder sie eine Präsentation halten, ein Theaterstück aufführen oder sonst irgendwas auf einer Bühne machen musste. Und bei vielen ist schon genau diese Erinnerung negativ belegt. Die wochenlang vor sich hergeschobene Vorbereitung, das typische „gar kein Bock“-Ding, das man vor vielen Präsentationen hat und dann die hastig zusammengestückelte PowerPoint und die am Morgen noch schnell ausgedruckten Notizen, damit man nicht völlig abkackt.
Und dann die Nervosität, bevor und während es losgeht. Die Augen, die einen anstarren und die furchtbar daher gestammelten ersten Sätze, bis man dann, im besten Fall, irgendwann seinen Rhythmus gefunden hat und sich irgendwie bis zum Ende hangelt.
Jeder- mich eingeschlossen- hat vermutlich so eine Erinnerung. Und bei vielen bleibt es eben nicht bei dieser einen Erinnerung. Im Laufe des Lebens finden sich oft zahlreiche solcher Erfahrungen, die dann dafür sorgen, dass wir froh sind, wenn andere für uns auf der Bühne stehen.
Leute wie ich eben. Und ich will ehrlich sein: Ich bin euch dankbar dafür. Ich bin dankbar für jeden, der sich entscheidet lieber nicht auf eine Bühne zu gehen. Das bedeutet weniger Konkurrenz für mich.
Das ist mir recht. Ich kann gut damit leben.
Aber ich will an dieser Stelle auch ganz ehrlich sein: Du denkst zu kurz! Zumindest aus meiner Sicht.
Jeden Tag auf der Bühne
Aber hast du mal darüber nachgedacht, dass du wesentlich öfter auf einer Bühne stehst, als du denkst?
Glaubst du nicht?
Vielleicht hängt das damit zusammen, wie wir „Bühne“ in den meisten Fällen definieren. Ich hab mich mal ein bisschen umgehört und ein paar Menschen gefragt, was sie eigentlich unter einer Bühne verstehen. Die Antworten kommen für mich wenig überraschend.
Bevor ich dir das jetzt aber gleich verrate, kannst du dich ja selbst nochmal schnell fragen, was dir eigentlich in den Sinn kommt, wenn du „Bühne“ hörst?
Den allermeisten Menschen fallen Bühnen ein, wie wir sie aus dem Theater, der Oper oder von anderen Veranstaltungen kennen. Der Bereich eines Raumes, der in irgendeiner Form erhöht ist. Damit man auch von allen gut gesehen werden kann. Deshalb ist er in aller Regel auch gut beleuchtet. Auf der Bühne liegt sozusagen ein Spotlight.
Eine etwas andere Art der Bühne kennen wir noch aus dem Fernsehen. Da ist sie meistens nicht erhöht. Die Bühne ist dann der Bereich, in dem Moderatorinnen und Moderatoren sich bewegen, damit die Kameras alles gut einfangen können. Auch dieser Bereich ist gut beleuchtet, perfekt aufgebaut und für alle sichtbar.
Der Begriff “Bühne” wird oft auf traditionelle Theater- und Veranstaltungsbühnen beschränkt. Doch Bühnen können überall sein – auch in einem simplen Gespräch mit einer einzelnen Person.
Und da kommen wir meinem Bild einer Bühne schon näher. Eine Bühne muss nicht immer erhöht sein. Sie ist aber immer in irgendeiner Form ein Bereich, in dem wir öffentlich sichtbar werden und wo andere Menschen uns plötzlich sehen können.
Fällt dir jetzt was auf?
Ne? Okay. Kein Ding, ich wollte es ohnehin aufschreiben.
Denk mal zurück an dein letztes Gespräch, das du mit einer mehr oder weniger fremden Person geführt hast. Denk mal an deinen Lehrer oder deine Lehrerin, deinen Chef oder deine Chefin.
Stell dir vor, dass es ein Gespräch unter vier Augen ist. Idealerweise hast du sogar ein Gespräch im Kopf, weil es real existiert hat.
Den Bühnenbegriff erweitern
Und an dieser Stelle sage ich dir: Herzlich willkommen auf der vielleicht kleinsten Bühne der Welt!
Hast du mal darüber nachgedacht, dass du in genau diesem Moment, einem einfachen Gespräch zwischen zwei Menschen, auf einer Bühne stehst?
Ich sage: Ja! Das ist so. Du stehst in genau diesem Moment auf einer Bühne. Erinnere dich nochmal an das, was du selbst unter einer Bühne verstehst:
Ist eine Bühne…
… ein Ort an dem du für andere plötzlich sichtbar wirst?
… ein Ort an dem die Augen auf dich gerichtet sind?
… ein Ort der dir, wie auch immer, eine exponierte Lage gibt?
… ein Ort an dem etwas präsentiert oder aufgeführt wird?
In jedem Gespräch, sei es mit einem Fremden oder einer vertrauten Person, stehst du auf einer Bühne. Du wirst wahrgenommen und präsentierst dich, bewusst oder unbewusst.
Wir (re)präsentieren uns gegenseitig
Umgekehrt funktioniert das auch. Die Person, mit der du dich da unterhältst, steht ebenfalls auf einer Bühne. Nur eben auf ihrer eigenen. Auf dieser Bühne wird sie von dir wahrgenommen. Und auch an der Stelle kannst du ja nochmal ganz ehrlich zu dir sein: Wie oft hast du schon gedacht: „Oh man, was ist das denn für einer?“. Das geht manchmal los, wenn dir der Händedruck nicht passt, wenn die Person ohne Punkt und Komma redet, nuschelt oder andere Dinge macht, die dir auffallen. In jedem dieser Momente präsentiert diese Person etwas auf einer Bühne. In dem Fall: sich selbst.
Und wieder umgekehrt: Du präsentierst dich. In jedem Gespräch und mit allem was du tust. Du denkst, es ist egal, dass du im Gespräch mit Fremden leiser sprichst als mit Freunden? Es fällt auf! Alles was du tust fällt auf! Deine Hände in den Taschen, dass du den Blick nicht halten kannst und hektisch hin und her schaust, das alles fällt auf.
Ich bewerte an dieser Stelle ganz ausdrücklich nicht, ob das gut oder schlecht ist. Es gibt aus meiner Sicht nichts was immer gut oder immer schlecht ist. Du musst dir nur im Klaren sein, dass du für das, was du tust gesehen wirst.
Samstags im Supermarkt
Ich mache ein weiteres Beispiel: Die allseits bekannte Supermarktkasse.
Du denkst, es ist egal, dass du mit einem heftigen Kater in versiffter Jogginghose am Samstag an der Supermarktkasse stehst und kaum mit der Verkäuferin interagierst, die dir einen schönen Tag gewünscht hat?
Keine Ahnung, ob dir das persönlich egal ist, wie du wahrgenommen wirst. Aber sei dir sicher: Für die Menschen hinter dir in der Schlange stehst du auf einer Bühne und die nehmen dich wahr. Manche mehr, manche weniger.
Sicher stehen in der Schlange hinter dir Menschen, die sich wenig für dich interessieren. Ebenso stehen dort aber vermutlich auch Menschen, die sich längst ihren Teil zu deinem Auftritt gedacht haben.
Bühne ist überall. Manchmal ist es uns egal, wie wir auf ihr wirken. Und das ist auch gut so. Zum Beispiel im Supermarkt. An sich kann es dir nämlich egal sein, was die Leute an diesem Tag denken. Ich beneide dich sogar darum, wenn es dir egal ist. Denn auch das ist eine große Errungenschaft: Zu unterscheiden, wann es wichtig ist, zu wirken, und wann es auch einfach mal egal ist, was alle anderen denken.
Andererseits zeigt dieses Beispiel eben, dass wir sehr, sehr oft auf einer Bühne stehen, ohne das wahrzunehmen. Vom einfachen Gespräch bis zur Supermarktkasse – alltägliche Situationen sind Bühnen, auf denen wir uns präsentieren, auch wenn wir es nicht immer merken.
Bühne als Chance, nicht als Last
Ich bin der Überzeugung, dass wir viel öfter auf “Bühnen” stehen, als uns bewusst ist. Doch das bedeutet nicht, dass alles zur Bühne gemacht werden sollte. Es ist wichtig, zwischen Situationen zu unterscheiden, die für uns wichtig sind, und solchen, die weniger Bedeutung haben.
Bei deinem nächsten Date kann es möglicherweise sinnvoll sein, dass du an diesen Beitrag hier zurückdenkst und dich erinnerst: „Oha. Warte mal. Ich stehe jetzt auf einer Bühne. Vielleicht sollte ich mich jetzt einigermaßen gut präsentieren.“ Zumindest, wenn du möchtest, dass es zu einem zweiten Date kommt.
Beim nächsten Festivalbesuch denkst du dann vielleicht lieber nicht daran, wenn du so ausgeflippt tanzt, dass die Wahrscheinlichkeit besteht, dass du dich eines Tages als Meme irgendwo wiederfindest.
Bühne ist am Ende überall. Wir können jedes Mal aufs Neue entscheiden, wie wir uns auf ihr präsentieren.
Authentizität betonen
Mir ist nur wichtig: Mach dich bitte nicht verrückt!
Wie gesagt: In ganz vielen Situationen kann es dir einfach total egal sein, was deine „Zuschauer:innen“ denken. Solange du in den für dich wichtigen Situationen so auftreten kannst, wie du es dir vorstellst, ist alles perfekt. Am Ende zählt Authentizität am meisten. Es geht nicht darum, sich ständig zu inszenieren, sondern darum, in den wichtigen Momenten so aufzutreten, wie es authentisch ist.
Das was ich hier aufgeschrieben habe ist mein Verständnis von Bühne. Keine Ahnung, ob du dieses Verständnis teilst oder ob es dir auch einfach vollkommen egal ist.
Mir hilft dieses Verständnis sowohl beruflich als auch im Alltag. Ich kann für mich entscheiden, wie ich auf einer Bühne wirken will. Ich kann entscheiden, ob es mir gerade wichtig ist, mich gut zu präsentieren oder ob ich keinen Wert darauf lege. Das kannst du auch! Mach dir nur einfach bewusst, wie du auf welcher Bühne wirken willst.
Ach ja, übrigens: Da wir so oft auf Bühnen stehen, lohnt es sich, sich damit zu beschäftigen, wer man eigentlich ist und wie man auf so einer Bühne wirken will. Aber darauf schauen wir in einem anderen Beitrag.
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